Die Vergessenskurve zeigt an, wie schnell wir neues Wissen vergessen. Entdeckt wurde sie 1885 vom deutschen Psychologen Hermann Ebbinghaus. In dieser Artikelserie zeige ich dir, warum wir Dinge vergessen, wie die Vergessenskurve aufgebaut ist und wie du durch gezielte Wiederholungen (Spacing-Effect) einen persönlichen Wissensspeicher aufbauen kannst, sodass du endlich alle wichtigen Fakten im Kopf behältst.
Oft denke ich mir, dass ich ein Gedächtnis wie ein Sieb habe: Mich tröstet bloß die Tatsache, dass ich mit diesem Problem nicht alleine bin. Die meisten Leute leiden darunter, dass sie gelernte Fakten sofort wieder vergessen. Nach einer wirklichen Lösung dieses Problems suchen jedoch nur die Wenigsten. Viel eher wird versucht, dieses Defizit mit Bulimielernen (Cramming) auszugleichen.
Auch ich ging diesen Weg: Nur so konnte ich Schule und Studium erfolgreich abschließen. Wer mich jedoch heute nach den Dingen fragt, die ich in meinem BWL-Studium lernte, wird schnell erkennen, wie wenige Fakten bei mir eigentlich hängen geblieben sind: In Wahrheit nur die Sachen, die jetzt auch noch in meinem Leben und in meinem Beruf eine Rolle spielen (und das ist natürlich nur ein kleiner Bruchteil des gesamten Curriculums).
Wir vergessen immer…
…und das ist nicht unbedingt schlecht. Denn unser Gehirn räumt auf, macht Platz für neue Sachen und versucht deswegen nur die Informationen zu behalten, die für unser Leben von Bedeutung sind. Deshalb bleiben ja Dinge besser haften, die uns wirklich interessieren, die uns emotional berühren oder einfach eine wichtige Rolle in unserem Alltag spielen.
Sind einmal vergessene Sachen wirklich weg? Wie es scheint, bleibt alles in unserem Kopf gespeichert, wir verlieren jedoch den Zugang:
„Im Grunde ist jede Information die wir jemals aufgenommen haben, in unserem Kopf gespeichert. Wir benötigen nur einen Schlüssel, um sie wieder hervorzuholen, denn der Mensch erinnert sich durch Verknüpfung von Gedanken. So können wir uns leicht an die Hochzeit des Freundes erinnern, weil wir viele Verknüpfungen dorthin haben. Schwerer fällt es uns aber, sich an Routine-Sachen zu erinnern.
Was haben wir am 4. Juli 2017 gemacht? Keine Ahnung, weil uns die Verknüpfung zu diesem Datum fehlt.
Fragt man jedoch Leute, die ereignisreiche Tage wie den 11. September 2001 oder den 9. November 1989 bewusst erlebt haben, können diese sich fast immer auch an unwichtigen Dinge erinnern, die sie an diesem Tag gemacht haben.
Das emotionale Ereignis ist die Verbindung zu allen anderen Erinnerungen, die damit verknüpft sind.“ (Kann sich jeder ein Fotografisches Gedächtnis aneignen?)
Learn smarter, not harder (Spacing Effect )
Um das Vergessen aufzuhalten, gibt es viele Methoden mit denen trockene Fakten in bildhafte und emotionale Informationen umgewandelt werden. Dabei handelt es sich fast immer um Mnemotechniken wie die Loci-Methode oder das Major-System. Das Problem dieser Methoden ist, dass es relativ aufwändig ist, sie aufzusetzen. Außerdem halten Mnemotechniken das Vergessen nicht auf: Die Informationen bleiben zwar länger im Gehirn haften, da stärkere neuronale Verbindung aufgebaut werden, wer seinen Gedächtnispalast aber monatelang vernachlässigt, wird trotzdem Schwierigkeiten haben, die gespeicherten Informationen wiederzufinden.
Ich bin ein großer Fan von Mnemotechniken und sie sind auch der Grund, warum ich mich überhaupt mit Gedächtnistraining und Lernmethoden auseinandersetze. Sie sind jedoch kein Allheilmittel, wenn es darum geht, sich Wissen langfristig anzueignen.
Lange Zeit fand ich mich damit ab, dass es keine wirkliche Lösung für dieses Problem gibt. Stattdessen versuchte ich neues Wissen so abzuspeichern, dass ich schnell wieder darauf zugreifen konnte. Es wurde für mich weniger wichtig, mich an die Fakten zu erinnern, stattdessen versuchte ich mir den Speicherort einzuprägen. Befriedigend war dieses Outsourcing nicht, denn ohne Internet oder Computer oder Smartphone gab es oft keine Möglichkeit auf die Informationen zuzugreifen und oft vergaß ich auch den Speicherort.
Vor wenigen Monaten entdeckte ich jedoch zufällig eine Lernmethode, die es mir heute erlaubt, neues Wissen viel nachhaltiger abzuspeichern. Es handelt sich dabei um die Methode der „zeitlich verteilten Wiederholung“ oder auf Englisch „Spaced Repetition“.
Dabei wird der Verlauf der Vergessenskurve (auch Spacing Effect genannt) ausgenutzt, sodass wir schon mit wenigen Wiederholungen, die über mehrere Jahre verteilt werden, fast 100 % aller Fakten behalten können.
Wie die Vergessenskurve zum Lernen nutzen?
Unser Gehirn geht mit neuen Informationen folgendermaßen um:
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Wir vergessen Informationen nicht linear, sondern exponentiell: Den größten Wissensverlust haben wir in den ersten Minuten, dann flacht die Kurve langsam ab. Im Durchschnitt ist nach einer halben Stunde die Hälfte der gelernten Fakten wieder verschwunden. Und so geht es weiter: Jedes neue Wissen geht mit einer Halbwertszeit von 30 Minuten verloren. Nach 6 Tagen können wir uns nur noch an 23 % des Lernstoffes erinnern. Langfristig bleiben sogar bloß 15 % der erlernten Fakten im Gehirn gespeichert und wir können uns natürlich nicht aussuchen, welche Fakten am Ende des Tages zu diesen 15% gehören (Quelle: Stangl). Der Verlauf dieser Vergessenskurve wurde das erste Mal vom deutschen Psychologen Hermann Ebbinghaus dargestellt. Er testete sein Gedächtnis, indem er Listen mit sinnfreie Silben lernte (z.B. laut Wikipedia: pöt, tuv oder zim) und im Anschluss überprüfte, wie schnell es die gelernten Silben wieder vergaß. Dabei konnte er den exponentiellen Verlauf des Vergessens nachweisen, wie es in der folgenden Grafik dargestellt wird:
Laut Ebbinghaus vergessen Menschen neues Wissen mit einer Halbwertszeit von 30 Minuten. Das erklärte zumindest, warum sich so viele Menschen fühlen als hätten sie ein Sieb im Kopf, löste jedoch noch nicht das Problem des Vergessens. Viel wichtiger dafür war eine weitere Erkenntnis:
Der Spacing Effect
Wiederholte Ebbinghaus seine Silben-Liste am darauffolgenden Tag, konnte er sich diese schon mit deutlich weniger Lernzeit einwandfrei merken. Nach jeder Wiederholung konnte er den Abstand zwischen den Wiederholungen vergrößern, um denselben Lernerfolg zu erreichen (auch der Abstand zwischen den notwendigen Wiederholungen wächst exponentiell).
Heute nennen wir dieses Phänomen den Spacing Effect.
Wie würdest du dir eine Liste mit den Namen der letzten 20 US-amerikanischen Präsidenten lernen, wenn du weißt, dass du in drei Monaten abgefragt wirst?
Ãœber Bulimielernen?
Also einen Tag dem Prüfungstermin die Fakten in dein Hirn hämmern?
Nach dem Lesen dieses Artikels wohl doch eher mit Hilfe von Spaced Repetitions. Denn insgesamt würdest du weitaus weniger Wiederholungszeit benötigen als bei der ersten Methode, außerdem bleiben die Fakten deutlich länger in deinem Kopf. Nun ist es nur noch nötig, den optimalen Zeitabstand zwischen dem Lernen des Lernstoffs, der ersten Wiederholung des Stoffes und den weiteren Wiederholungen des Stoffes zu bestimmten. Da das Vergessen unter anderem von…
- Der Komplexität des Stoffes
- Unserer Motivation
- Der Einbettung des Stoffes in bestehendes Wissen
abhängt, kann das leider nicht universell gesagt werden. Jeder Lernstoff hat eine andere Vergessensrate (je nach Komplexität), es wäre daher quasi unmöglich, die idealen Wiederholungszeiträume für Fakten selbst zu bestimmen.
Es besteht jedoch die Möglichkeit die Wiederholungsintervalle mit Hilfe eines Algorithmus zu bestimmen. Seit den 80er Jahren gibt es Lernsoftware, die genau das zu ermitteln versucht. Den Anfang machte das Programm Supermemo des polnischen Forschers Dr. Piotr Wozniak. Weitaus bekannter (besonders unter Jura und Medizinstudenten) ist heute die Open-Source-Software Anki.
So helfen dir Anki und Supermemo beim Lernen
Lernsoftware wie Anki oder Supermemo versucht mittels eines Algorithmus den richtigen Wiederholungszeitraum zu ermitteln.
Lernst du eine neue Ankikarteikarte wird sie dir nach einem Tag wieder gezeigt. Wenn du sie bei der ersten Wiederholung wieder abrufen kannst, vergrößert sich das Intervall (der Abstand hängt davon ab, ob dir die Antwort schwer oder leicht gefallen ist). Wenn du dich nicht mehr erinnern kannst, musst du sie noch einmal am nächsten Tag wiederholen.
Der Anki-Alhorithmus ist sicher nicht zu 100% perfekt, aber das liegt auch oft am User: So lässt man vielleeicht regelmäßig Wiederholungstage aus, oder gibt an, dass einem die Antwort leicht gefallen sei, obwohl man Schwieirgkeiten beim Beantworten hatte, und so weiter. Trotzdem kannst du mit Hilfe von Anki neues Wissen relativ effizient und wirklich langfristig behalten.
Inzwischen dient mir Anki als persönlicher Wissensspeicher: Egal ob es sich um Informationen aus Büchern, Blogs, YouTubevideos oder Vorlesungen handelt, sobald ich denke, dass das Wissen für mich in der Zukunft sinnvoll ist, kommt es in meinen Anki-Karteikarten-Stapel. So kann ich sicher gehen, dass ich mich später daran erinnern kann, solange ich täglich für einige Minuten meine Anki-Wiederholungen mache.
Das ist auch das einzige Problem beim Lernen mit Anki: Wenn man Wissen ein Leben lang und nicht nur bis zur nächsten Prüfung behalten will, muss es ein Leben lang wiederholt werden. Das klingt jedoch anstrengender als es wirklich ist: Schon nach wenigen erfolgreichen Wiederholungen beträgt das Intervall bis zur nächsten Wiederholung mehrere Jahre. Wer kein neues Wissen in seinem Anki-Stapel hinzufügt, hätte schon bald wenig zu tun.
Nach meiner Erfahrung gehen die meisten Leute aber einen anderen Weg und fügen neues Wissen, viel zu schnell und in einem viel zu großen Umfang hinzu.
Wer sich überfordert, kann schnell ein Anki-Burnout bekommen und lässt die Sache ganz bleiben. Damit du nicht den gleichen Fehler machst, werde ich in einem der nächsten Artikel zeigen, wie du Anki richtig aufsetzt, damit es dich wirklich langfristig als Wissensspeicher und Lerntool begleitet.